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Vollverzinsung mit Zinssatz von 6% verfassungswidrig

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Denise Walgenbach

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12. November 2021 (Datum der Veröffentlichung)
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Konsequenzen für den Gesetzgeber und die Praxis

Nach jahrelanger Unschlüssigkeit gibt es jetzt einen Beschluss des ersten Senats vom 08. Juli 2021 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, welcher diese auflöst.

I. Konsequenzen der BVerfG-Entscheidung

1.Gesetzliche Maßnahmen für Verzinsungszeiträume ab 2019

Aus dem Beschluss des BVerfG ergeben sich folgende Konsequenzen:

  • Nach der Bundestagswahl am 26.9.2021 wird sich der Gesetzgeber umgehend mit der Neuregelung (ab Veranlagungsjahr 2019) des § 238 Abs. 1 Satz 1 Abgabenordnung (im Folgendem AO) befassen. Die Neuregelung muss spätestens am 31.7.2022 in Kraft treten (und dies rückwirkend für alle offenen Fälle, in denen Zinsen für Verzinsungszeiträume ab 1.1.2019 festgesetzt wurden oder eigentlich festzusetzen gewesen wären). Hierbei hat das BVerfG dem Gesetzgeber einen weiten Spielraum eingeräumt auf Vorgaben zur Bestimmung des Zinssatzes verzichtet.
  • Mit der Frage, welcher Zinssatz (unterhalb von 0,5 % pro Zinsmonat) verfassungsrechtlich denkbar sein könnte befasste sich das Bundesverfassungsgericht (im Folgendem BVerfG) in seiner Entscheidung ausgiebig. Es gab aber keine verbindlichen oder zumindest konkreten Vorgaben, wie hoch der Zinssatz verfassungsrechtlich maximal sein dürfe. Seine Auseinandersetzung mit den von der Bundesregierung in ihrer Stellungnahme vorgetragenen Argumenten deutet aber dahin, dass jedenfalls eine Anknüpfung allein an Kreditzinsen nicht zulässig sein dürfte. Maßstab für die Neuregelung könnte z. B. der Basiszinssatz nach § 247 BGB (als Nachfolger des früheren Diskontzinssatzes) sein. Naheliegend erscheint ein aus Anlage- und Kreditzinsen gebildeter Mittelwert, der einen sicheren Schluss auf den durch die späte Steuerfestsetzung erzielbaren Vorteil zulässt.
  • Nach der Entscheidung des BVerfG verfügt der Gesetzgeber bei der (Neu-)Bemessung des Zinssatzes über einen im Rahmen seiner Typisierungsbefugnis weiten Einschätzungs- und Prognosespielraum. Zwar müsse auch die Zinssatzbemessung nach Maßgabe des Vorteils vorgenommen werden, dessen Nutzungsmöglichkeit mit dem Zins abgegolten werden soll. Doch auch insoweit stünden dem Gesetzgeber verschiedene sachgerechte Anknüpfungspunkte für eine realitätsgerechte Typisierung zur Verfügung.
  • Sieht der Gesetzgeber einen variablen Zinssatz vor, bestehen Spielräume im Hinblick auf den Anpassungszeitraum, wobei eine Anpassung für die Zukunft erfolgen könne.
  • Bestimmt der Gesetzgeber einen starren Zinssatz, so steht es ihm frei Überprüfungszeiträume gesetzlich festzulegen oder sich auf seine Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht zu beschränken, die sich jedenfalls bei Vorliegen konkreter Anhaltspunkte aktualisiere, bestimmt er dagegen (weiterhin) einen starren Zinssatz. Eine Anpassung könne aber erforderlich sein, um längerfristige Zinsentwicklungen abzubilden
  • Denkbar wäre auch eine gänzliche Neugestaltung der Vollverzinsung oder generell des Zinssystems in der AO.

In der aktuellen Zeit, in der von den Banken verstärkt Negativzinsen erhoben werden, könnte der Gesetzgeber sogar gänzlich auf eine Vollverzinsung verzichten.

2.Keine rückwirkende Neuregelung für Verzinsungszeiträume von 2014 bis 2018

Das BVerfG hat ausdrücklich entschieden, dass der Gesetzgeber – ungeachtet der Feststellung der Unvereinbarkeit des § 233a i. V. mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO mit dem Grundgesetz mit Wirkung für Verzinsungszeiträume ab 1.1.2014 – für Verzinsungszeiträume vom 1.1.2014 bis 31.12.2018 nicht zu einer rückwirkenden Neuregelung verpflichtet ist. Er müsste sie vielmehr für alle Zinsfälle (zumindest für noch nicht festsetzungsverjährte Zinsfälle) zur Anwendung bringen, was nicht nur einen erheblichen Verwaltungs- und Vollzugsaufwand auslösen würde, sondern auch – nicht zuletzt für die Gemeinden bei den Zinsen zur Gewerbesteuer – zu erheblichen Haushaltsausfällen.

3.Zinsfestsetzungen für Verzinsungszeiträume von 2014 bis 2018

Aufgrund der Weitergeltungsanordnung des § 233a in Verbindung mit § 238 Absatz 1 Satz 1 AO für Verzinsungszeiträume vor 2019 sind bereits ergangene Zinsbescheide insoweit nicht zu ändern. Dies gilt auch, wenn sie noch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO) stehen oder noch (ganz oder teilweise) vorläufig (§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO) ergangen sind. Für diesen Zeitraum ist die rechtliche Ungewissheit entfallen. Eine vorläufige Zinsfestsetzung für Verzinsungszeiträume vor 2019 muss allerdings nur für endgültig erklärt werden, wenn sie aus anderen Gründen aufzuheben oder zu ändern ist oder der Steuerpflichtige die Endgültigkeitserklärung beantragt (§ 165 Abs. 2 Satz 4 AO).

In künftig ergehenden Zinsbescheiden nach § 233a AO sind Nachzahlungs- und Erstattungszinsen für Verzinsungszeiträume vor 2019 weiterhin mit 0,5 % pro Zinsmonat zu berechnen und endgültig festzusetzen. Eine Vorläufigkeitserklärung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AO ist insoweit mangels Neuregelungsverpflichtung auch nicht zulässig. Gleiches gilt für die Festsetzung von Zinsen nach §§ 234 bis 237 AO oder anderen vergleichbaren Vorschriften.

4.Zinsfestsetzungen für Verzinsungszeiträume ab 1.1.2019

Gerichte und Behörden dürfen § 233a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO seit Veröffentlichung der BVerfG-Entscheidung (das heißt seit dem 18.8.2021) für Verzinsungszeiträume ab 1.1.2019 nicht mehr anwenden. Gerichts- und Verwaltungsverfahren sind insoweit bis zum Inkrafttreten der rückwirkenden gesetzlichen Neuregelung auszusetzen.

Dabei ist zu unterscheiden:

  • Zinsfestsetzungen die vor Veröffentlichung der BVerfG-Entscheidung unanfechtbar geworden sind und bei denen Zinsen (ggf. auch) für Verzinsungszeiträume ab 1.1.2019 berücksichtigt wurden, sind wegen der Entscheidung des BVerfG weder zu ändern noch aufzuheben (§ 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG entsprechend). Sie genießen (weiterhin) Bestandskraft.
  • Bei der (anderweitigen) Änderung vor Veröffentlichung der BVerfG-Entscheidung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung oder in vollem Umfang vorläufig ergangener Zinsfestsetzungen, bei denen Zinsen (ggf. auch) für Verzinsungszeiträume ab 1.1.2019 berücksichtigt wurden, ist die neue Zinsfestsetzung (grundsätzlich) insgesamt nach § 165 Abs. 1 Satz 4 AO auszusetzen. Ausgenommen hiervon sind aber unter dem Vorbehalt der Nachprüfung oder in vollem Umfang vorläufig festgesetzte Erstattungszinsen; die neue Zinsfestsetzung ist insoweit in der bisherigen Höhe nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AO für vorläufig zu erklären (das heißt keine Rückforderung dieser Erstattungszinsen). Nach Verkündung der vom BVerfG geforderten rückwirkenden Gesetzesänderung ist die ausgesetzte Festsetzung von Nachzahlungs- oder Erstattungszinsen ggf. nachzuholen oder (hinsichtlich der vorläufig festgesetzten Erstattungszinsen) ggf. zu ändern. Dies würde dann auch zu Zinsnachforderungen oder Zinserstattungen führen.
  • Bei der (anderweitigen) Änderung vor Veröffentlichung der BVerfG-Entscheidung (nur) teilweise vorläufig ergangener Zinsfestsetzungen, bei denen Zinsen (ggf. auch) für Verzinsungszeiträume ab 1.1.2019 angesetzt wurden, ist die neue Zinsfestsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 4 AO im Umfang der bisher vorläufig festgesetzten Zinsen und der neu hinzukommenden Zinsen auszusetzen. Ausgenommen hiervon sind aber bisher nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig festgesetzte Erstattungszinsen; die neue Zinsfestsetzung ist insoweit in der bisherigen Höhe nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AO für vorläufig zu erklären (das heißt keine Rückforderung dieser Erstattungszinsen). Nach Verkündung der vom BVerfG geforderten rückwirkenden Gesetzesänderung ist die ausgesetzte Festsetzung von Nachzahlungs- oder Erstattungszinsen ggf. nachzuholen oder (hinsichtlich der vorläufig festgesetzten Erstattungszinsen) ggf. zu ändern. Dies würde dann auch zu Zinsnachforderungen oder Zinserstattungen führen.
  • Alle Zinsen nach den §§ 234 bis 237 AO (Stundungszinsen, Hinterziehungszinsen, Prozesszinsen und Aussetzungszinsen) oder nach anderen einschlägigen Vorschriften sind auch für Verzinsungszeiträume ab 1.1.2019 weiterhin mit 0,5 % pro Zinsmonat zu berechnen und nun (erstmals oder geändert) endgültig festzusetzen. Soweit bei der Festsetzung solcher Zinsen eine Anrechnung von Zinsen nach § 233a AO erfolgen muss (vergleiche § 234 Abs. 3, § 235 Abs. 4, § 236 Abs. 4 oder § 237 Abs. 4 AO), ist die Aussetzung der Zinsfestsetzung nach § 233a AO zu berücksichtigen. Gegebenenfalls sind die betroffenen Zinsbescheide anzupassen. Nach Inkrafttreten der rückwirkenden Neuregelung wird die Festsetzung dieser Zinsen ggf. erneut anzupassen sein.
  • Bei der (anderweitigen) Änderung vor Veröffentlichung der BVerfG-Entscheidung endgültig ergangener Zinsfestsetzungen, bei denen Zinsen (ggf. auch) für Verzinsungszeiträume ab 1.1.2019 angesetzt wurden, ist die neue Zinsfestsetzung (nur) im Umfang der neu hinzukommenden Zinsen nach § 165 Abs. 1 Satz 4 AO auszusetzen. Nach Verkündung der vom BVerfG geforderten rückwirkenden Gesetzesänderung ist die ausgesetzte Festsetzung von Nachzahlungs- oder Erstattungszinsen ggf. nachzuholen. Dies würde dann zu Zinsnachforderungen oder Zinserstattungen führen.

5.Änderungen von Zinsfestsetzungen nach § 233a Abs. 5 AO

Bei der Änderung von Zinsfestsetzungen nach § 233a Abs. 5 AO ist Folgendes zu beachten:

  • Für Verzinsungszeiträume bis zum 31.12.2018 bleibt die bisherige Verzinsungspraxis faktisch weiterbestehen. Für Verzinsungszeiträume ab 1.1.2019 ergeben sich folgende Konsequenzen:
  • Die Festsetzung „neuer“ Nachzahlungs- oder Erstattungszinsen ist gem. § 165 Abs. 1 Satz 4 AO auszusetzen.
  • Hinsichtlich zuvor festgesetzter Zinsen sind die oben unter I, 4 beschriebenen Fälle zu unterscheiden und die Zinsen entsprechend (ggf. teilweise) vorläufig oder endgültig festzusetzen oder ihre vorläufige Festsetzung durch eine Aussetzung der Festsetzung zu ersetzen.
  • Im Fall eines Unterschiedsbetrags zugunsten des Steuerpflichtigen ist die Minderung bisher auf diesen Unterschiedsbetrag mit 0,5 % pro Monat festgesetzter Nachzahlungszinsen (zugunsten des Zinsschuldners) weiterhin uneingeschränkt vorzunehmen (§ 233a Abs. 5 Satz 3 Halbsatz 2 AO).

6. Anhängige Einspruchsverfahren

Hat der Einspruchsführer ausschließlich die Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes nach § 238 Abs. 1 Satz 1 AO in seinem Einspruch gerügt, gilt Folgendes:

  • Einsprüche gegen die Festsetzung von Zinsen nach den §§ 234 bis 237 AO oder anderen einschlägigen Vorschriften sind (ungeachtet des zugrunde gelegten Verzinsungszeitraums) als unbegründet zurückzuweisen, wenn sie nicht ohnehin zurückgenommen werden.
  • Einsprüche gegen die Festsetzung von Zinsen nach § 233a AO sind hinsichtlich der für Verzinsungszeiträume bis 31.12.2018 festgesetzten Zinsen (ggf. insoweit) als unbegründet zurückzuweisen.
  • Einspruchsverfahren, in denen die Festsetzung von Zinsen nach § 233a AO für Verzinsungszeiträume ab 1.1.2019 gerügt wurde, sind (ggf. insoweit) auszusetzen (s. Rz. 253 des BVerfG-Beschlusses). Die Zinsfestsetzung darf (ggf. insoweit) auch nicht mehr vollstreckt oder vollzogen werden. Nach Verkündung der vom BVerfG geforderten rückwirkenden Gesetzesänderung ist das Einspruchsverfahren (ggf. insoweit) fortzusetzen.

II. Vorherige Rechtslage

Durch die BVerfG Entscheidung wurde die bestehende Rechtslage gekippt. § 233a AO, welcher mit dem Steuerreformgesetz 1990 v. 25.7.1988 (BGBl 1988 I S. 1093) eingeführt worden ist, regelt die Verzinsung bestimmter Steuernachforderungen und Steuererstattungen (sog. Vollverzinsung). Sie gilt nur für die (Jahres-)Festsetzung der Körperschaft-, Einkommen-, Vermögen-, Umsatz- und Gewerbesteuer (§ 233a Abs. 1 Satz 1 AO), das sind die sog. Veranlagungssteuern.

Die Vollverzinsung betrifft den Zeitraum zwischen der Entstehung der Steuer und ihrer Festsetzung. Der Zinslauf beginnt aber nicht bereits mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist, sondern erst nach einer zinsfreien Karenzzeit von mindestens 15 Monaten (§ 233a Abs. 2 Satz 1 und 2 AO).

Maßgebend für die Zinsberechnung ist nach § 233a Abs. 3 Satz 1 AO die festgesetzte Steuer, vermindert um die gesetzlich bestimmten Abzugsbeträge (sog. Unterschiedsbetrag). Bei Unterschiedsbeträgen zugunsten des Steuerpflichtigen gilt das Prinzip der Ist-Verzinsung, bei Unterschiedsbeträgen zuungunsten des Steuerpflichtigen dagegen das Prinzip der Soll-Verzinsung (§ 233a Abs. 3 Satz 3 AO). In Änderungsfällen ist keine Gesamtaufrollung der Zinsfestsetzung vorzunehmen, sondern das besondere Verfahren nach § 233a Abs. 5 AO zu beachten.

Daneben kennt die AO noch (und schon lange vor Einführung der Vollverzinsung) Stundungszinsen (§ 234 AO), Hinterziehungszinsen (§ 235 AO), Prozesszinsen (§ 236 AO) und Aussetzungszinsen (§ 237 AO). Außerdem enthalten die Einzelsteuergesetze und andere Normen Verzinsungstatbestände, bei denen die Regelungen der §§ 238 und 239 AO unmittelbar oder zumindest entsprechend gelten.

Alle vorgenannten Zinsen betragen nach § 238 Abs. 1 Satz 1 und 2 AO 0,5 % für jeden vollen Monat (Zinsmonat) des Zinslaufs. Die in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO geregelte Zinshöhe ist seit der Einführung der Vorgängerregelung (§ 5 Steuersäumnisgesetz) durch das Steueränderungsgesetz 1961 (BGBl 1961 I S. 981) unverändert geblieben. Der Gesetzgeber hat bei Ablösung der RAO durch die AO 1977 und auch bei Einführung der Vollverzinsung, letztlich aber bis heute an diesem festen Zinssatz festgehalten.

III. Verwaltungsregelungen vor der BVerfG-Entscheidung

Mit dem BMF-Schreiben v. 14.12.2018 (BStBl 2018 I S. 1393), geändert durch das BMF-Schreiben v. 27.11.2019 (BStBl 2019 I S. 1266), war angewiesen worden, im Einspruchsverfahren auf Antrag die Vollziehung aller Zinsen, in denen § 238 Abs. 1 Satz 1 AO angewendet wurde, für Verzinsungszeiträume ab 1.1.2012 auszusetzen.

Mit BMF-Schreiben v. 2.5.2019 (BStBl 2019 I S. 448) wurde zudem angeordnet, alle seitdem ergehenden Zinsfestsetzungen, in denen § 238 Abs. 1 Satz 1 AO angewendet wurde, im Rahmen der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO („anhängiges Musterverfahren“) vorläufig zu.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass das kassenmäßige Aufkommen der Vollverzinsung bei Bund und Ländern seit 2018 dramatisch eingebrochen ist.

IV. Eckpunkte der Entscheidung des BVerfG v. 8.7.2021

Die Entscheidung des BVerfG hat folgende wesentliche Aspekte:

    1. Die Vollverzinsung nach § 233a AO ist als solche grundsätzlich verfassungsgemäß. Sie trägt dazu bei, die durch eine späte Steuerfestsetzung potenziell entstehenden Liquiditätsvorteile abzuschöpfen, und fördert damit die Erreichung des Gesetzeszwecks. Die der Ausgestaltung der Vollverzinsung im Nachzahlungsfall zugrundeliegende typisierende Annahme, dass diejenigen, deren Steuerfestsetzung erst nach Ablauf der Karenzzeit von (mindestens) 15 Monaten (zutreffend) erfolgt, einen potenziellen Liquiditätsvorteil haben, ist von der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers gedeckt.
    2. 233a i. V. mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO war ursprünglich noch zur Förderung des Gesetzeszwecks im verfassungsrechtlichen Sinne erforderlich. Der Zinssatz von monatlich 0,5 % bildete den durch eine späte Steuerfestsetzung entstehenden Zinsvorteil insoweit auch noch hinreichend ab. Für bis in das Jahr 2013 fallende Verzinsungszeiträume ist der gesetzliche Zinssatz zwar zunehmend weniger in der Lage, den Erhebungszweck der Nachzahlungszinsen abzubilden. Die Vollverzinsung entfaltet insoweit jedoch noch keine evident überschießende Wirkung.
    3. Die Vollverzinsung im Nachzahlungsfall mit dem typisierten Zinssatz von 0,5 % pro Zinsmonat entfaltet aber spätestens für in das Jahr 2014 fallende Verzinsungszeiträume im Regelfall eine überschießende Wirkung. Da der starre Zinssatz von 0,5 % Zinsschwankungen nicht mehr ausgleichend abbilden kann, ist er aufgrund der spätestens seit dem Jahr 2014 erkennbaren erheblichen Abweichung von den Verhältnissen am Kapitalmarkt – selbst unter Berücksichtigung des Verzichts auf die Erhebung von Zinseszinsen – offensichtlich nicht mehr realitätsgerecht bemessen. Daher ist die Vollverzinsung nach § 233a AO mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, soweit der Zinsberechnung für Verzinsungszeiträume ab dem 1.1.2014 ein Zinssatz von 0,5 % pro Monat zugrunde gelegt wird.
    4. Das BVerfG hat sich dabei allerdings ausdrücklich darauf beschränkt, lediglich die Unvereinbarkeit des § 233a i. V. mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO – für die Verzinsung aller von der Norm erfassten Steuern und für Verzinsungszeiträume ab 2014 – mit dem Grundgesetz festzustellen, nicht dessen Nichtigkeit.
    5. Für Verzinsungszeiträume vom 1.1.2014 bis 31.12.2018 ist das bisherige Recht aber gleichwohl weiter anwendbar (Fortgeltungsanordnung bis 2018). Der Gesetzgeber ist insoweit auch nicht zu einer rückwirkenden Neuregelung verpflichtet.
    6. Diese Unvereinbarkeitserklärung hat für Verzinsungszeiträume ab 1.1.2019 aber zur Folge, dass Gerichte und Verwaltungsbehörden diese Normen insoweit nicht mehr anwenden dürfen, laufende Verfahren sind auszusetzen (Anwendungsverbot ab 2019). Der Gesetzgeber wurde verpflichtet, bis zum 31.7.2022 eine verfassungsgemäße Neuregelung (nur) für Verzinsungszeiträume ab 1.1.2019 für alle offenen Fälle zu treffen.
    7. Diese Unvereinbarkeitserklärung hat für Verzinsungszeiträume ab 1.1.2019 aber zur Folge, dass Gerichte und Verwaltungsbehörden diese Normen insoweit nicht mehr anwenden dürfen, laufende Verfahren sind auszusetzen (Anwendungsverbot ab 2019). Der Gesetzgeber wurde verpflichtet, bis zum 31.7.2022 eine verfassungsgemäße Neuregelung (nur) für Verzinsungszeiträume ab 1.1.2019 für alle offenen Fälle zu treffen.

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